Medizinnobelpreis 1906: Camillo Golgi — Santiago Ramón y Cajal

Medizinnobelpreis 1906: Camillo Golgi — Santiago Ramón y Cajal
Medizinnobelpreis 1906: Camillo Golgi — Santiago Ramón y Cajal
 
Der Italiener und der Spanier erhielten den Nobelpreis »in Anerkennung ihrer Arbeit über die Struktur des Nervensystems«.
 
 Biografien
 
Camillo Golgi, * Corteno (Italien) 7. 7. 1844, ✝ Pavia 21. 1. 1926; 1865 Abschluss des Medizinstudiums, ab 1865 Arzt in Pavia, ab 1872 Leitung des Hospitals in Abbiategrosso bei Mailand, 1875 Ordinarius der Anatomie an der Universität von Siena, ab 1876 Professor für Histologie an der Universität Pavia, ab 1881 dort Professor der allgemeinen Pathologie.
 
Santiago Ramón y Cajal, * Petilla de Aragón (Spanien) 1. 5. 1852, ✝ Madrid 17. 10. 1934; 1873 Abschluss des Medizinstudiums an der Universität Saragossa, 1874-75 als Militärarzt Teilnahme an einer Expedition nach Kuba, danach zunächst als Assistent am Anatomischen Institut der Universität Saragossa, 1883 Promotion in Madrid und Professur für deskriptive und allgemeine Anatomie in Valencia, 1887 Professor der Histologie und Pathologischen Anatomie in Barcelona, 1892 übernahm er den gleichen Lehrstuhl in Madrid.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit der Verleihung des Nobelpreises für Medizin im Jahr 1906 gemeinsam an den Italiener Camillo Golgi und den Spanier Santiago Ramón y Cajal wurden zwei Mediziner und Histologen gewürdigt, die mit ihren bahnbrechenden neuroanatomischen Forschungen das Fundament für unsere heutigen Kenntnisse des Nervensystems und seiner feineren Struktur gelegt haben. Obwohl beide entgegengesetzte Ansichten über die Organisation des Nervensystems vertraten, lieferte jeder von ihnen schlüssige Beweise, die zur Etablierung der heute gültigen Neuronentheorie und zum vorläufigen Abschluss der jahrzehntelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Feinstruktur des Nervenapparats beitrugen.
 
 Retikulartheorie und Neuronentheorie
 
Dank der Untersuchungen Albert von Koellikers (1844) und Rudolf Wagners (1847) schien um die Mitte des 19. Jahrhunderts die These bewiesen, dass zwischen Nervenzellen (»Ganglienkugeln«, 1833 durch Christian Gottfried Ehrenberg entdeckt) und Nervenfasern ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Einzelheiten dieser Zell-Faser-Strukturen machte anschließend der Bonner Anatom Otto Deiters in seinem posthum erschienenen Werk (1865) bekannt. Deiters zeigte mithilfe der von Joseph Gerlach 1858 eingeführten Karminfärbung, dass jede Nervenzelle mit zweierlei Fortsätzen, dem Achsenzylinderfortsatz (= Axon) und zahlreichen sich verzweigenden Protoplasmafortsätzen (= Dendriten) versehen ist. Für diese zellulären Nerveneinheiten prägte Wilhelm Waldeyer-Hartz später (1891) die Bezeichnung »Neuron«. Die nicht eindeutig interpretierbaren histologischen Befunde ließen jedoch die Frage offen, auf welche Weise die so strukturierten Nervenzellen mit ihren Verzweigungen untereinander in Verbindung stehen. Die vielfältigen Deutungsversuche des mikroskopisch Wahrgenommenen lassen sich auf zwei grundsätzliche Positionen der Neurologen reduzieren: Die Anhänger der so genannten Retikulartheorie (Joseph Gerlach, Camillo Golgi, Albrecht Bethe) behaupteten, dass sich die Fortsätze der Nervenzellen mit ihren Verästelungen zu einem dichten Geflecht oder Netz (reticulum) kontinuierlich verbinden. Die Vertreter der Neuronentheorie (Wilhelm His, Auguste Forel, Fridtjof Nansen, Albert Koelliker, Ramon y Cajal) hingegen betonten aufgrund von Durchtrennungsversuchen an Nervenfasern und embryologischen Beobachtungen die Eigenständigkeit der Nervenzellen und hielten die Neuronen für individuelle Einheiten, die lediglich miteinander in Kontakt stehen, aber nicht zu einem Kontinuum verschmelzen.
 
 Revolutionäres Färbeverfahren
 
Die entscheidende Technik, die zur Aufklärung dieser Frage führte, lieferte 1873 der Italiener Camillo Golgi mit seiner Erfindung der Silberimprägnationsmethode (»reazione nera«), die die Neuroanatomie revolutionierte. Das Verfahren beruhte auf der Einwirkung von wässriger Silbernitratlösung auf die zuvor mit Kalium- oder Ammoniumbichromat gehärteten Präparate und erlaubte die kontrollierte Färbung einzelner Nervenelemente. In dem so behandelten Gehirngewebe traten die Nervenzellen mit ihren gesamten Verästelungen als dunkle Strukturen vor hellem Hintergrund mit großer Schärfe hervor. Mithilfe dieser Methode entdeckte Golgi nicht nur die nach ihm benannten Zellorganellen (»apparato reticolaro interno« 1898), sondern er beobachtete als Erster, dass auch die Axone feine Nebenzweige besitzen (1886), deren Existenz bis dahin übersehen wurde. Aufgrund dieser Entdeckung befürwortete Golgi die Retikulartheorie und nahm an, dass sich aus den Seitenverzweigungen der Axone der verschiedenen Neurone ein Faserfilz des Nervengewebes aufbaut, in dem die jeweiligen Zellteile verschmolzen und die Nervenzellen ihre anatomische Unabhängigkeit verloren. Die Dendriten hielt Golgi für bloße Ernährungsorgane und maß ihnen keine Bedeutung für die Erregungsleitung bei.
 
Golgis Färbeverfahren blieb jedoch lange Zeit unbemerkt. Erst 1887 stieß der spanische Histologe Ramon y Cajal auf Golgis Epoche machende Technik, die Cajal zunächst im Kleinhirn, dann im Rückenmark, Gehirn, Riechhirn und Sehlappen sowie in embryonalen Schnitten anwandte. Die neue Methode — unter Einbeziehung von Ehrlichs Methylenblaufärbung (1886) — ermöglichte ihm den eindeutigen Nachweis, dass die Axone in der grauen Substanz des Zentralnervensystems unabhängig voneinander enden und dass es keine wirkliche Kontinuität zwischen den Nervenzellen, sondern nur einen engen Kontakt gab. Im Gegensatz zu Golgi, der die Retikulartheorie wegen ihrer größeren Plausibilität vorzog, deutete Cajal die histologischen Befunde im Sinne der Neuronenlehre Waldeyers und betrachtete die Nervenzellen als diskrete Einheiten, die den Erregungsfluss im Nervensystem kanalisieren. Dabei stützte er sich auf das Synapsenkonzept des Physiologen Charles Scott Sherrington (Nobelpreis 1932), das eine Schlüsselrolle in seinem Nervenfunktionsmodell spielte. Cajal postulierte, dass die Erregungsleitung allein über den Synapsenspalt, die Kontaktstelle zwischen den Nervenzellen, erfolgt, wobei die Übertragung der Nervenimpulse immer von den Dendriten und Zellkörpern zum Axon hin stattfinden sollte (Prinzip der dynamischen Polarisierung). So ergab sich das Paradox, dass Golgi durch seine neuartige Färbetechnik zur Entwicklung der Neuronentheorie durch Cajal und seine Vorläufer His, Forel und Waldeyer den Anstoß gegeben hat, obwohl er selbst auf der Retikulartheorie beharrte, die sich nicht durchsetzen konnte.
 
 Weitere epochale Leistungen Golgis und Cajals
 
Golgis bahnbrechende Leistungen betreffen nicht nur die Anatomie und Histologie des Nervensystems. Ebenso erfolgreich war er in der Erforschung der Malaria. Ihm gelang 1886, nachdem Alphonse Laveran (Nobelpreis 1907) im Jahr 1880 die parasitäre Ursache der Malaria aufgedeckt hatte, die Unterscheidung der Malaria quartana (Viertagefieber) von der Malaria tertiana (Dreitagefieber) aufgrund der verschiedenen Entwicklungsperioden der Parasiten; wenig später, 1889, konnte er zeigen, dass für die beiden Infektionskrankheiten zwei verschiedene Arten der Gattung Plasmodium (P. vivax und P. malariae) verantwortlich waren.
 
Ramón y Cajal verfasste etwa 20 Bücher und 250 wissenschaftliche Aufsätze. Zu seinen wichtigsten Werken zählt die dreibändige Summe seiner Forschungen, die 1899-1904 erschien. Darin lieferte er umfassende histologische, experimentell-morphologische sowie embryologische Beweise der Neuronenlehre und schuf damit die Grundlagen der modernen Neurologie. Für seine Forschungsergebnisse erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen sowohl in Spanien als auch im Ausland. 1909 wurde er Mitglied der Royal Society in London.
 
I. Müller

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Liste der Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin — Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin wird seit 1901 jährlich vergeben und ist mit 10 Mio. Schwedischen Kronen dotiert. Die Auswahl der Laureaten unterliegt dem Karolinska Institut. Der Stifter des Preises, Alfred Nobel, verfügte in seinem… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”